„The purposes of this Act are (…) to give the River the capacity of a natural person in order to protect its right to exist and flow, to maintain its vital cycles, natural biodiversity and integrity, to fulfil essential functions within its ecosystem, to be nourished by its aquifers and tributaries, to be protected from contamination and to regenerate (…)“
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Dieser Text aus einem Gesetzentwurf des kanadischen Unterhauses vom 5. Mai 2022 mag auf den ersten Blick ungewöhnlich erscheinen: Darin wird einem Flusssystem der Status einer juristischen Person zugesprochen. Doch diese Idee ist weniger abwegig, als sie scheint – im Gegenteil: Im folgenden Text möchte ich zeigen, warum es durchaus plausibel ist, Flüsse als lebendige Akteure zu begreifen.
Das Schwarzwaldflüsschen Wutach, das später noch eine Rolle spielen wird, begleitet diesen Text visuell. Weitere Fotos von lebendigen Flüssen finden Sie in meiner Galerie streaming waters.
Ich bedanke mich bei dem Flussmorphologen Thomas Fleischhacker für wertvolle Rückmeldungen und dafür, dass er jederzeit bereit war, seine Expertise zu teilen.
Zur Einstimmung lade ich Sie zunächst zu einem kurzen Ausflug in die Erdgeschichte ein. Wir beginnen auf langen (geologischen) Zeitskalen von Zehntausenden bis wenigen Millionen Jahren – und nähern uns dann Zeiträumen, die in unsere historische Wahrnehmung fallen: Jahrhunderte, Jahrzehnte. Dabei geht es immer auch um das Verhältnis von Mensch und Fluss – und darum, wie tiefgreifend Flüsse sich wandeln können.
Wir werden sehen: Ihre Dynamik ist beeindruckend – und sie zu unterdrücken, etwa durch technische Eingriffe wie Flussausbauten, ist nicht immer eine gute Idee. Gerade im Angesicht der Klimakrise mit zunehmenden Extremwetterereignissen und Dürren wird deutlich, wie wichtig ein neues Verständnis von Flüssen ist.
Ich beginne unsere Reise mit einem Blick auf den Oberlauf der Donau – und in seine erdgeschichtliche Vergangenheit.
Entwicklung der oberen Donau im Lauf der Erdgeschichte
Die Geschichte der Donau lässt sich zurück verfolgen bis ins obere Miozän vor etwa 5–10 Millionen Jahren.
Das Quellgebiet der Urdonau lag zunächst im Aarmassiv, einem Gebirgsmassiv, das heute in den Schweizer Zentralalpen lokalisiert ist. Im Pliozän (vor 5,3 bis 2,6 Millionen Jahren) verlor die Donau durch tektonische Hebungen weite Teile ihres Einzugsgebietes und ihr Quellgebiet verlagerte sich in den Schwarzwald. Der am Feldberg entspringende Quellfluss trägt den Namen "Feldberg-Donau".
Ein besonders prägendes Ereignis war der sogenannte Wutachdurchbruch vor etwa 18.000 Jahren: Durch rückschreitende Erosion und aufgestautes Schmelzwasser wurde die Feldberg-Donau innerhalb von sehr kurzer Zeit in das Wutachtal zum Hochrhein umgeleitet. Dabei entstanden die Wutachschlucht und das markante Wutachknie.
Dieses Ereignis dauerte möglicherweise nur Wochen oder Monate und könnte sich bereits in Anwesenheit früher Menschen abgespielt haben
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Heute entspringt die Donau in der Nähe von Furtwangen auf rund 1100 Metern Höhe auf einer Hochfläche des mittleren Schwarzwaldes.
Auch im Holozän schnitt sich die Wutach – einer der wenigen noch verbliebenen Wildflüsse Deutschlands – weiter in das Gestein ein – ein Prozess, der bis heute anhält. In ihrem oberen Verlauf hat sich dieser Fluss in eine Folge unterschiedlich alter Gesteinsschichten eingegraben. Das Foto zeigt die Wutach in einem Bereich, in dem sie durch die Schichten des Muschelkalk fließt
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Die Wutach an einer Stelle, an der Wasser, das einige Hundert Meter flussaufwärts versickert ist, aus dem Kalkstein wieder austritt.
Wer durch die Wutachschlucht wandert, bekommt einen Eindruck davon, wie lebendig und veränderlich sich diese Landschaft noch heute zeigt
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Im Frühjahr, wenn die Wutach viel Wasser führt, ist ihre Dynamik besonders stark ausgeprägt.
Die Wutach: Ein kraftvoller Fluss, der sich unermüdlich seinen Weg bahnt.
Entwicklung von Flüssen auf kürzeren Zeitskalen und der Einfluss des Menschen
Wir haben uns angeschaut, wie Flüsse sich auf Zeitskalen von Millionen bis zu wenigen Tausend Jahren verändern. Sie wechseln ihren Lauf aber auch, wenn man sie lässt, auf sehr viel kürzeren, uns Menschen besser zugänglichen, Zeitskalen von Jahrhunderten oder Jahrzehnten. Sie befinden sich hierbei meist in einem Wechselspiel mit menschlichem Handeln: Schon seit langer Zeit greifen Menschen in den natürlichen Verlauf von Flüssen ein – sie begradigen sie oder bauen sie aus, um den Handel zu erleichtern oder andere Wirtschaftszweige zu unterstützen, etwa die historische Flößerei im Schwarzwald. Hier wurden die Zuflüsse zum Rhein benutzt, um riesige Mengen an Holz abzutransportieren. Selbst an Bächen auf den entlegensten Höhen des Schwarzwaldes wurden sogenannte „Schwallungen“ errichtet, um mit der Kraft des kurzzeitig aufgestauten Wassers die mächtigen Stämme talabwärts transportieren zu können
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Das heißt, der Mensch hat immer wieder Einfluss genommen auf den natürlichen (will sagen: ungestörten) Verlauf der Gewässer.
Dabei kann sich teilweise eine erstaunliche Wechselwirkung zwischen (punktuellen) menschlichen Eingriffen und der Eigendynamik des Flusses entwickeln – sofern letztere größtenteils nicht unterbunden wird. Der Flussmorphologe Thomas Fleischhacker hat die Veränderungen des Flussbettes der Mulde, eines Nebenflusses der Elbe, nördlich von Eilenburg (Sachsen) für den Zeitraum von 1905 bis 2018 analysiert
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Sehr schön in dieser Arbeit sind auch die Karten, auf denen die Flussverläufe der Mulde aus verschiedenen Jahren (mit unterschiedlichen Farben codiert) übereinandergelegt sind
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Am Beispiel der Schwarzwaldflusses Kinzig (Schwarzwald) zeigt Thomas Fleischhacker eindrucksvoll (durch den Vergleich historischer Karten mit dem heutigen Zustand), wie eine einstmals lebendige Flusslandschaft ihre natürliche Wandelbarkeit verliert, wenn durch Ausbaumaßnahmen der freie Lauf des Gewässers weitgehend eingeschränkt wird. So beobachtet er:
„Betrachtet man heutzutage die Kinzig zwischen Kehl und Hausach, dann sieht man fast durchweg einen begradigten und einheitlich ausgebauten Flusslauf, der von Deichen und grasbewachsenen Vorländern begleitet wird. Mit diesem Bild vor Augen kann man sich kaum vorstellen, dass die Kinzig vor ihrem Ausbau ein sehr dynamischer Wildfluss war, dessen Gewässerbett von Sand- und Kiesbänken und erheblichen Breitenunterschieden geprägt war.
Durch den Ausbau der Kinzig ging die Vielgestaltigkeit des Gewässerbettes verloren und damit auch viele unterschiedliche Lebensräume für Fische, Kleinlebewesen und Wasserpflanzen.“
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Das folgende Foto zeigt einen anderen, stark ausgebauten Fluss, den Neckar bei Mannheim
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Der Neckar ist im Mannheimer Stadtgebiet begradigt und hat dort mehr den Charakter eines künstlich angelegten Kanals.
Es zeigt sich, dass der technische Ausbau von Flüssen – etwa durch Begradigungen – langfristig nicht immer nachhaltig ist. Solche Maßnahmen verringern die Resilienz gegenüber Hochwasser, da wichtige Überschwemmungsflächen verloren gehen. Diese natürlichen Rückzugsräume sind jedoch entscheidend, um bei Hochwasser überschüssiges Wasser aufzunehmen (siehe auch diesen Artikel vom WWF).
Dadurch haben viele Flüsse ihre natürliche Dynamik – oder anders gesagt: ihre Lebendigkeit – eingebüßt.
Mit der fortschreitenden globalen Erwärmung, verursacht durch menschliche Treibhausgasemissionen, steigt zudem die Häufigkeit von Extremwetter. Infolgedessen hat sich auch das Hochwasserrisiko in Deutschland deutlich erhöht
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Doch es gibt Gegenmaßnahmen wie z.B. Flussrenaturierungen. Darunter versteht man Maßnahmen zur Rückführung eines vom Menschen veränderten Flusses oder Baches in einen möglichst naturnahen Zustand. Diese können dazu beitragen, Flüssen – zumindest in Teilen – ihre natürliche Dynamik zurückzugeben und Rückhalteflächen zu schaffen, die Hochwasser abmildern. Durch die Wiederherstellung naturnaher Ufer und Auen verbessern sich die Speicher- und Rückhaltekapazitäten eines Flusses, wodurch sich die Folgen extremer Wetterlagen deutlich verringern lassen. Solche Retentionsräume wirken wie natürliche Schwämme: Sie nehmen überschüssiges Wasser bei Starkregen oder Überflutungen auf und verlangsamen den Abfluss. So wird verhindert, dass große Wassermengen unkontrolliert in Städte oder andere bebaute Gebiete strömen und dort Überschwemmungen verursachen (siehe hierzu z.B. folgenden Artikel der BBC).
Betrachten wir Renaturierung von Flüssen aber nicht nur als Maßnahme, mit der – Stichwort: Hochwasserschutz – vorausschauend „Schadensbegrenzung“ betrieben werden kann. Nein, Flussrenaturierung ist Teil einer positiven, zukunftsgerichteten Erzählung, wenn man sie als ganzheitliches, integratives Projekt versteht. Denn wenn man einem Fluss – selbstverständlich unter Berücksichtigung der aktuellen Bebauung und anderer Randbedingungen und unter Einbeziehung der lokalen Bevölkerung – einen Teil seines ursprünglichen „Raumes“, ja, seine „Lebendigkeit“ zurückgibt, geschieht noch viel mehr: Es können sich wieder Arten ansiedeln, die verschwunden waren; die Biodiversität wird zum Guten beeinflusst. Und darüber hinaus können für die Menschen in den Anrainergebieten und für Besucherinnen und Besucher ganz neue Erholungsräume und -möglichkeiten geschaffen werden.
Das folgende Foto veranschaulicht noch einmal die lebendige Dynamik der Wutach.
Die wilde Wutach, aufgenommen im Frühjahr 2019.
Wenn Sie sich in die Klänge des Flusses hineinhören möchten, öffnen Sie diese Audioaufnahme, die ich zur selben Zeit aufgenommen habe
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Die Mitwelt und das Netz des Lebens
Mit dem Konzept der Renaturierung haben wir bereits einen Bogen zur Ökologie gespannt. Diese wird definiert als die Wissenschaft von den Wechselbeziehungen zwischen Organismen und ihrer Umwelt. Statt des Begriffes „Umwelt“ möchte ich aber lieber von der „Mitwelt“ sprechen. Während der Begriff „Umwelt“ suggeriert, der Mensch trete in Beziehung zu etwas, das ihn umgibt und das außerhalb von ihm steht „Mitwelt“ für:
die Gesamtheit aller Lebewesen, mit denen wir in wechselseitiger Beziehung und Verantwortung stehen als Teil eines gemeinsamen Netzwerkes des Lebens
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Aus dieser Perspektive heraus gedacht, sind Menschen, Tiere und Pflanzen miteinander verbunden und bilden ein dynamisches Ökosystem. Diese Sichtweise impliziert eine respektvollere und nachhaltigere Haltung gegenüber der Natur, da die gegenseitige Abhängigkeit aller Lebewesen betont wird.
Nach meinem Verständnis kommt dieser Mitwelt-Begriff dem Verständnis von „Natur“ besonders nahe, das bereits im 18. Jahrhundert von dem großen Naturforscher Alexander von Humboldt (1769 – 1859) geprägt wurde. In einer Schrift von ihm aus dem Jahre 1807 finden wir folgende Aussage:
„In der großen Verkettung der Ursachen und Wirkungen darf kein Stoff, keine Thätigkeit isoliert betrachtet werden. Das Gleichgewicht, welches mitten unter den Perturbationen scheinbar streitender Elemente herrscht, dies Gleichgewicht geht aus dem freyen Spiel dynamischer Kräfte hervor; und ein vollständiger Überblick der Natur, der letzte Zweck alles physikalischen Studiums, kann nur dadurch erreicht werden, dass keine Kraft, keine Formbildung vernachlässigt, und dadurch der Philosophie der Natur ein weites, fruchtversprechendes Feld vorbereitet wird.“
Die Kulturhistorikerin Andrea Wulf geht in ihrer Humboldt-Biografie so weit zu sagen, dass Humboldt die Natur als das „Netz des Lebens“ erfand
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Das heißt, das Verständnis von „Mitwelt“ wie ich es hier skizziert habe, lässt sich nahtlos mit Alexander von Humboldts „Netz des Lebens“ in Verbindung bringen. Dass dieses Denken auch und gerade eine Verantwortung für zukünftige Generationen einschließt, ist naheliegend, und es erschließt sich uns, wenn wir uns Aussagen wie die folgende von Alexander von Humboldt vor Augen führen. Hier spricht er von den negativen Auswirkungen von Abholzungen, die er auf seiner Reise durch Südamerika im Jahre 1800 am Valenciasee in Venezuela beobachtet hat.
„Durch Fällung der Bäume, welche die Berggipfel und Berghänge decken, bereiten die Menschen unter allen Himmelsstrichen den kommenden Geschlechtern gleichzeitig eine gedoppelte Plage, Mangel an Brennstoff und Wassermangel. (...) Die Zerstörung der Wälder, wie die europäischen Colonisten dieselbe in America allenthalben mit unvorsichtiger Eile vornehmen, hat die gänzliche Austrocknung oder wenigstens die Abnahme der Quellen zur Folge. Die Betten der Bäche, welche einen Theil des Jahrs trocken bleiben, verwandeln sich in Bergströme, so oft Gussregen aus den Höhen fällt. Und weil mit dem Gesträuche auch der Rasen und das Moos auf den Gräten der Berge verschwinden, so wird der Ablauf des Wassers durch nichts weiter aufgehalten: anstatt, mittelst eines allmähligen Durchseihens, die Gewässer der Bäche langsam fürdauernd zu unterhalten , furchen sie bey heftigen Regengüssen die Hügelabhänge aus, schwemmen das losgerissene Erdreich fort, und bilden jene plötzlichen Anschwellungen, welche das Land verheeren.“
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„Orte guten Lebens“ etablieren
Ich möchte noch einen Schritt weitergehen und plausibel machen, dass ein aus dem Verständnis einer „Mitwelt“ heraus gelebter, nachhaltiger und demütiger Umgang mit der Natur – insbesondere mit Flüssen – eine Lebensweise fördern kann, die für uns Menschen und auch den nachfolgenden Generationen ein „gutes Leben“ ermöglicht.
Zur Verdeutlichung dieses Gedankens greife ich auf den Alpenforscher Werner Bätzing zurück, der den Begriff „Orte guten Lebens“ in seinen Arbeiten geprägt hat – mit besonderem Fokus auf den Alpenraum
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„Orte guten Lebens“ entstehen dort, wo Menschen, Natur und Kultur in einem ausgewogenen Miteinander stehen. Sie sind geprägt von einer nachhaltigen Wirtschaft und einem sanften Tourismus, die sowohl der lokalen Bevölkerung zugutekommen als auch die natürlichen Grundlagen berücksichtigen
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„Orte guten Lebens“ sind nach meinem Verständnis daher Ausdruck einer gelebten „Mitwelt“.
An diesen Orten ist das Wohlergehen aller untrennbar mit dem der Natur verbunden. Bätzing betont die besondere Rolle des Alpenraums als sensibles Ökosystem – gewissermaßen als „Frühwarnsystem für Europa“. Gleichzeitig sieht er darin ein mögliches Vorbild: eine Modellregion, in der neue Formen des Wirtschaftens und Zusammenlebens entstehen können. Seine Vision ist die Entwicklung eines neuen Wirtschafts- und Lebensmodells:
„bei dem anstelle der Dominanz der Wirtschaft ein lebendiges und lebenswertes Leben in Verantwortung für sich selbst. Für die Mitmenschen und für den eigenen Lebensraum im Zentrum steht und das sich dann in zahllosen 'Orten guten Lebens' in den Alpen und in ganz Europa niederschlägt.“
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Wenn wir nun den Blick auf das Thema Flüsse richten, wird deutlich, dass auch hier Potenzial für solche „Orte guten Lebens“ liegt.
Maßnahmen zur Wiederherstellung naturnaher Flusssysteme erhöhen nicht nur die Resilienz gegenüber Extremwetter. Sie fördern auch die Artenvielfalt und sie schaffen darüber hinaus neue, naturnahe Erholungsräume. Ein Leben mit dem Fluss wird wieder möglich. An der Ruhr etwa haben Renaturierungsprojekte neue Erholungslandschaften entstehen lassen
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Auch an der Murg im Nordschwarzwald zeigen sich vielfältige positive Auswirkungen. Thomas Fleischhacker beschreibt dies so:
„Aber nicht nur Ökologie und Hochwasserschutz haben sich verbessert. Erstmals sieht man zahlreiche Menschen, besonders an heißen Sommertagen spielen Kinder am und im Fluss und können ihn über die flachen Ufer auch leicht erreichen. Zu Zeiten des ausgebauten Flusses ließen die steilen gepflasterten Uferböschungen niemand so leicht ans Wasser, und die Wiesenvorländer sahen allenfalls Hundebesitzer beim Spaziergang. Auch die Menschen selbst haben also von der Umgestaltung profitiert und nehmen das Flussbett in Besitz. Die Umgestaltung kann sowohl dem Hochwasserschutz wie der Ökologie und dem Menschen dienen und dem Fluss ein bisschen vom Antlitz vergangener Tage zurückbringen.“
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Diese Beschreibung könnte genau Teil jener positiven, zukunftsgerichteten Erzählung sein, die ich weiter oben angesprochen habe – einer Erzählung, die zeigt, dass nachhaltiger Umgang mit natürlichen Ressourcen nicht Verzicht bedeuten muss, sondern Lebensqualität schaffen kann. In diesem Sinne kann der Fluss – verstanden als Teil eines lebendigen Netzwerks – zu einem zentralen Element für das „gute Leben“ werden.
Indigene Perspektiven – auf dem Weg zu einem neuen Rechtsverständnis
Wir haben gesehen, dass Flüsse eine hohe Dynamik auf unterschiedlichen Zeitskalen aufweisen. Sie verändern sich im Verlauf von Jahrmillionen und Jahrtausenden bis hin zu Zeitskalen, die für uns Menschen wahrnehmbar sind.
Das Verb im Titel des zuletzt zitierten Artikels – „Wie ein Fluss die industrielle Entwicklung erlebt“ – bildet einen gelungenen Einstieg in die folgenden Überlegungen. Wenn wir unsere Beziehung zur Natur als „netzwerkartig“ verstehen, ist es ein naheliegender Schritt, Flüsse als Lebewesen zu betrachten
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Ausgehend vom Netzwerkgedanken können wir nun eine Perspektive einnehmen, wie sie in vielen indigenen Kulturen selbstverständlich ist. Eine hervorragende Einführung dazu bietet Robert Macfarlanes Buch Sind Flüsse Lebewesen?
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Ein Fluss, der in dem Buch thematisiert wird, ist der Río Los Cedros, der einen tropischen Nebelwald in den ecuadorianischen Anden durchfließt. Tropische Nebelwälder entstehen meist in Höhenlagen von 1000 bis 3000 Metern wegen der hohen Luftfeuchtigkeit durch starke Nebelbildung. Die Biologin Giuliana Furci, spezialisiert auf Mykologie, betont die enge Verbindung zwischen Fluss, Wald und den unterirdischen Pilznetzwerken (Mehr erfahren).
Robert Macfarlane verdeutlicht durch diese Beschreibungen ein erweitertes Verständnis von Naturzusammenhängen – als „Netzwerk des Lebendigen“.
Der Wald in der Wutachschlucht als Teil eines größeren „Netzwerk des Lebendigen“.
Der Autor und die in seinem Roman vorkommenden Menschen begegnen Flüssen durchweg so als handele es sich bei ihnen um lebendige Wesen. Diese Einstellung wird an vielen Stellen prägnant formuliert, wie hier:
„Da, in diesem seltsamen, strahlenden Wasser, geht mir plötzlich auf, dass es keine anthropomorphisierende Behauptung ist, wenn ich sage, dass ein Fluss ein Lebewesen ist. Ein Fluss ist kein Mensch, und umgekehrt. Jeder der beiden entzieht sich dem anderen auf andere Weise. Wenn ich sage, Flüsse sind Lebewesen, personifiziere ich nicht, sondern erweitere und vertiefe die Kategorie 'Leben', womit ich wiederum – wie George Eliot so treffend meinte – 'das innere Reich, in dem wir uns bewegen, vergrößere'.“
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Doch sein Buch zeigt auch die Gefahren für diese Systeme. Er berichtet, wie Flüsse sterben können – etwa durch Bergbau. So zitiert er Giuliana Furci:
„'Der Bergbau würde den Fluss umbringen, der wäre mausetot', sagt Guiliana. 'Wenn du ihm den Wald wegnimmst, nimmst du ihm auch den Regen und den Nebel. Und dann stirbt der Fluss.'“
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Ein Beispiel aus Deutschland zeigt, dass solche Gefahren auch hier Realität sind: 2022 wurde ein streng geschützter Wildbach im Rappenalptal im Naturschutzgebiet „Allgäuer Hochalpen“ auf 1,5 Kilometern Länge ausgebaggert. Die Maßnahme – laut Betreibern eine Reaktion auf Hochwasser – zerstörte das Biotop irreversibel. Dahinter steckt ein technokratisches Hochwasserschutzdenken: Das Wasser soll möglichst schnell abfließen. Die negativen Folgen dieser kurzfristigen Lösung treffen aber andere – zum Beispiel Gebiete flussabwärts oder zukünftige Generationen. Das eigentliche Problem wird so nicht gelöst. Man nennt so etwas auch Externalisierung. Doch nachhaltiger Schutz bedeutet gerade, Flüssen Raum zu geben
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Robert Macfarlane begleitet Menschen, die sich für „ihren“ Fluss einsetzen – sei es als ökologisches System oder als lebendigen Organismus, wie viele indigene Kulturen es sehen. In mehreren Ländern wurde der Natur, und insbesondere auch Flüssen, bereits ein juristischer Personenstatus mit eigenen Rechten zuerkannt – ein wichtiger Meilenstein. Denn wenn dieser Gedanke in der Verfassung verankert ist, wird die Zerstörung der Natur oder eines Flusses zu einer Rechtsverletzung mit entsprechenden Konsequenzen. Mittlerweile sind die Rechte der Natur in der Verfassung Ecuadors
(Mehr erfahren) verankert.
In Artikel 71 heißt es dort:
„Nature, or Pacha Mama, where life is reproduced and occurs, has the right to integral respect for its existence and for the maintenance and regeneration of its life cycles, structure, functions and evolutionary processes.“
In Artikel 74 heißt es:
„Persons, communities, peoples, and nations shall have the right to benefit from the environment and the natural wealth enabling them to enjoy the good way of living.“
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In Kanada erhielt der Fluss Mutehekau Shipu (Magpie River) in Kanada verfassungsmäßige Rechte, ebenso der Whanganui River in Neuseeland. Dort wurde 2017 das Te-Awa-Tupua-Gesetz verabschiedet. Es besagt
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„Te Awa Tupua is an indivisible and living whole from the mountains to the sea, incorporating the Whanganui River and all of its physical and metaphysical elements.“ (Kapitel 12)
„Te Awa Tupua is a legal person and has all the rights, powers, duties, and liabilities of a legal person.“ (Kapitel 14)
Wenn der Natur oder gar Flüssen im Rahmen der deutschen Verfassung der Status einer juristischen Person mit eigenen Rechten verliehen würde, könnten Eingriffe wie die Zerstörung im Rappenalptal als direkte Verletzung der Rechte des Flusses gewertet und entsprechend geahndet werden. Ein solcher Rechtsstatus würde es dem Fluss ermöglichen – vertreten durch bevollmächtigte Personen – vor Gericht zu klagen und umfassenden Schutz vor menschlichen Eingriffen einzufordern.
Diese Entwicklungen zeigen: Es ist durchaus sinnvoll, Flüsse als lebendige Einheiten im Netzwerk des Lebens zu verstehen. Indigene Perspektiven tragen entscheidend dazu bei. Sie beruhen auf einem tiefen Erfahrungswissen – denn viele Gemeinschaften leben seit Generationen in enger Beziehung zu ihrem Fluss. Wird er zerstört, verlieren sie nicht ihre Lebensgrundlagen und ihre spirituelle Verbindungen.
Diese Sichtweise kann ökologische Debatten bereichern. Die weltweit zunehmende rechtliche Anerkennung der Natur als Rechtssubjekt könnte ein bedeutender Hebel für künftige Umweltverfahren werden.
Deshalb meine Anregung: Lassen wir indigene Perspektiven stärker in unsere Gespräche über die Zukunft unserer Mitwelt einfließen – und lernen wir von ihnen, wo es möglich und sinnvoll ist.
Fluss und Wald in der Wutachschlucht.
Und die Donau?
Wir haben diese Flussreise mit einem Ausflug in die erdgeschichtliche Vergangenheit der Donau begonnen. Dabei haben wir gesehen, dass das Einzugsgebiet dieses Flusssystems im Laufe der Zeit immer kleiner geworden ist. Diese Entwicklung scheint nicht abgeschlossen und auch in Zukunft weiter voranzuschreiten
(Mehr erfahren).
Eines der Phänomene, das diese Entwicklung sichtbar werden lässt, ist die Donauversickerung bei Immendingen. Das dort der Donau verlustig gehende Wasser fließt unterirdisch durch Karstgestein zum Aachtopf, wo es als Quelle wieder an die Oberfläche tritt. Von dort fließt es als Radolfzeller Ach zum Bodensee. Das Phänomen verdeutlicht, wie der Rhein der Donau durch sein tiefer gelegenes Einzugsgebiet zunehmend Wasser abzieht – ein Prozess fortschreitender Flussanzapfung.
Außerdem kann man davon ausgehen, dass sich ein derzeit zur Wutach entwässernder Bach bei Blumberg – das Schleifenbächle – durch rückschreitende Erosion allmählich (durch das Aitrach-Tal) einen Weg in Richtung Nordosten zum Donautal graben wird, so dass die Donau in ferner Zukunft wahrscheinlich bei Geisingen zum Rhein hin abgelenkt werden wird. Spätestens dann müsste für die Stadt Donaueschingen ein neuer Name gefunden werden.
Aber dies alles dürfte sich weit jenseits dessen abspielen, was wir Menschen zeitlich überblicken und kontrollieren können.
×Aus dem Gesetzentwurf C-271 des kanadischen Unterhauses vom 5. Mai 2022 (erste Lesung). Dieser Gesetzentwurf trägt den Titel „An Act to give legal capacity to the St. Lawrence River and to provide for measures respecting its protection“ (kurz: St. Lawrence River Capacity and Protection Act) und kann hier nachgelesen werden: [https://www.parl.ca/DocumentViewer/en/44-1/bill/C-271/first-reading](https://www.parl.ca/DocumentViewer/en/44-1/bill/C-271/first-reading). Hierin wird einem Flusssystem der Status einer juristischen Person zugesprochen mit dem Ziel, ihn als komplexes, insbesondere mit dem Leben der indigenen Bevölkerung eng verschränktes System zu schützen. Wir werden in diesem Artikel noch weitere Beispiele aus anderen Ländern kennenlernen, in denen es ähnliche Ansätze gibt. Ich übersetze die angegebene Textstelle wie folgt:
„Der Zweck dieses Gesetzes ist (…) dem Fluss die Rechtsfähigkeit einer natürlichen Person zu verleihen, um sein Recht auf Existenz und Fließen zu schützen, seine lebenswichtigen Zyklen, die natürliche Biodiversität und Integrität aufrechtzuerhalten, wesentliche Funktionen innerhalb seines Ökosystems zu erfüllen, sich aus seinen Grundwasserleitern und Zuflüssen zu nähren, vor Verschmutzung geschützt zu werden und sich zu regenerieren.“
×Es gibt zwar keine archäologischen Befunde oder gar Überlieferungen, die eine solche Annahme beweisen. Allerdings sind die Höhlen und Fundstätten in der Umgebung, wie die Schwäbische Alb, bekannt für ihre prähistorischen Artefakte, die auf die Anwesenheit von Menschen in dieser Region während der Zeit der letzten großen Vereisung hinweisen. So wurden in der Schwäbischen Alb künstlerischen Artefakte aus dem Jungpaläolithikum gefunden, unter anderem die berühmte, 35.000 bis 40.000 Jahre alte „Venus vom Hohlefels“.
×Im oberen Verlauf der Wutach treten Gneise und Granite zutage, die im Paläozoikum (älter als 255 Millionen Jahre) verortet werden, während weiter flussabwärts Sedimentschichten des unteren Jura (180 Millionen Jahre alt) aufgeschlossen sind.
Wir können an der Stelle, an der dieses Foto aufgenommen wurde, ein interessantes Phänomen beobachten, denn das kalkhaltige Gestein (Muschelkalk aus der Trias, 243 bis 235 Millionen Jahre alt) führt hier zur Herausbildung von Karstformen. Eine Karstform ist eine Landschaftsform, die durch die chemische Verwitterung von löslichem Gestein wie Kalkstein entsteht, wobei Wasser in die Gesteinsstruktur eindringen kann. Etwa 1.5 Kilometer flussaufwärts von dieser Stelle versickert die Wutach teilweise im Kalkgestein. Das Wasser wird in unterirdische Höhlen geleitet. Es fließt nicht zum Rhein, da es auf unlösliches Gestein (Granit und Gneis des Schwarzwald-Grundgebirges) trifft und gezwungen ist, in sein ursprüngliches Bett zurückzukehren. Nach 1,5 km – an der Stelle, an der dieses Foto gemacht wurde – tritt die Wutach wieder an die Oberfläche.
×Eine kurze Beschreibung und ein Fotoportrait dieses Flusses: Thomas Fleischhacker (Text), Peter Gutsche (Fotos): Die Wutach – Landschaft im Fluss, NaturFoto, Tecklenborg-Verlag, 05, 2015.
×In vergangenen Jahrhunderten gab es noch keine Maschinen, mit denen Menschen das in den schlecht zugänglichen Bergwäldern geschlagene Holz vor Ort verarbeiten bzw transportieren konnten. Daher hat man das Wasser der Bäche und Flüsse genutzt, um es bergab zu transportieren. Um geschlagenes Holz von den höhergelegenen Stellen im Wald – wo die Bäche wenig Wasser führen – nach unten zu transportieren, wurden an manchen Stellen sogenannte Schwallungen errichtet, an denen das Bachwasser (oder wie hier das des kleinen Sees) aufgestaut und dann kurzzeitig abgelassen werden konnte, um dann die Kraft des Wassers zu nutzen, um das Holz zu bewegen. Auf genauen topografischen Karten des Schwarzwaldes, wo die Flößerei besonders intensiv betrieben wurde, finden sich viele Orte mit dem Namen „Schwallung“.
Einen literarischen Hinweis auf diese Praktiken am hoch gelegenen Mummelsee im Schwarzwald findet man in Hans Jakob Christoffel von Grimmelshausen (1622 – 1676): „Der abenteuerliche Simplicissimus Teutsch“.
„Also wanderten wir miteinander über Berg und Tal und kamen zu dem Mummelsee, ehe wir sechs Stund gegangen hatten, denn mein Petter war noch so käfermäßig und so wohl zu Fuß als ein Junger; wir verzehrten daselbst was wir von Speis und Trank mit uns genommen, denn der weite Weg und die Höhe des Bergs, auf welchem der See liegt, hätte uns hungrig und hellig gemacht; nachdem wir uns aber erquickt, beschaute ich den See und fand gleich etliche gezimmerte Hölzer darin liegen, die ich und mein Knan für rudera des württembergischen Floßes hielten….“
×Zum Thema Kartografie historischer Flussverläufe: Der amerikanische Kartograf Harold Fisk hat in den 1940er Jahren eine Karte des Mississippi-Flusses angefertigt, auf der historische Flussverläufe (Mäander) übereinander (mit verschiedenen Farben markiert) dargestellt sind. Fisk nutzte historische Karten, um den Flussverlauf bis ins Jahr 1765 zurück zu verfolgen. Darüber hinaus nutzte er Luftaufnahmen und geologische Studien, um den Flussverlauf in prähistorischer Zeit zu rekonstruieren.
„Fisk dreamed up a captivating, colorful, visually succinct way of representing the Mississippi’s fluctuations through both space and time.“
In einem Artikel von National Geographic wird ein moderner Ansatz beschrieben, mit dem der aktuelle und früher Flussverläufe ermittelt werden können. Hierbei wird gepulstes Laser-Licht (von Flugzeugen) auf die Erdoberfläche gesendet. Durch die Messung der Zeit, die das reflektierte Licht braucht, um zurück zum Detektor zu gelangen, ist es möglich, ein sehr präzises, dreidimensionales Bild der Erdoberfläche zu erstellen (Light Detection and Ranging oder LiDAR). LiDAR ist besonders nützlich, weil es auch unter Vegetation „hindurchsehen“ kann, was es ermöglicht, versteckte oder schwer zugängliche Flussverläufe zu kartieren, die möglicherweise nicht auf traditionellen Karten sichtbar sind.
Eine mit Harold Fisks Mississippi-Karte vergleichbare visuelle Darstellung der Flusslaufentwicklung habe ich für die Donau nicht finden können. Ich möchte jedoch auf die 36 Meter lange Pasetti-Karte“ hinweisen, die von dem Hydrotechniker und Ministerialbeamten Florian von Pasetti (1793–1875) erstellt wurde. Diese Karte zeigt den Verlauf der Donau von der deutsch-österreichischen Grenze bis zum Eisernen Tor in Rumänien. Sie befindet sich heute in der Österreichischen Nationalbibliothek.
Dieses Video, das Severin Hohensinner im Rahmen des Forschungsprojektes ENVIEDAN - Umweltgeschichte der Wiener Donau 1500 - 1890 erstellt hat, zeigt die Simulation eines Fluges über die Wiener Donau-Flusslandschaft um das Jahr 1570:
Die Beschreibung anderer Flüsse vom selben Autor: Thomas Fleischhacker: Wie ein Fluss die industrielle Entwicklung erlebt. Die Murg von Gernsbach bis Rastatt. In: Industrialisierung im Nordschwarzwald, Oberrheinische Studien, Band 34. Jan Thorbecke Verlag, Ostfildern 2016, S. 177–186, ISBN 978-3-7995-7835-6.
×Durch die Zuordnungsforschung, auch Attributionsforschung genannt, ist es mittlerweile beispielsweise möglich, bestimmte Extremwetterereignisse der durch Menschen verursachten Erderwärmung zuzuordnen. Es ist wichtig zu betonen, dass dies nicht für alle Ereignisse gilt, da auch andere Faktoren eine Rolle spielen. Der experimentelle Nachweis dieser Zuordnung gestaltet sich jedoch als schwierig. Wir verfügen nicht über zwei Erden – eine mit Menschen und eine ohne – um deren Entwicklung retrospektiv zu vergleichen. Dennoch können Klimamodelle verwendet werden, um Szenarien zu simulieren: Man berechnet die klimatischen Bedingungen einmal mit und einmal ohne den menschlichen CO2-Ausstoß. Auf diese Weise lässt sich der Einfluss des Menschen auf das Klima besser verstehen und quantifizieren.
Für weitere Informationen zur Attributionsforschung und ihren Ergebnissen besuchen Sie bitte:
×Der Begriff „Mitwelt“ wird mittlerweile gerne statt des Begriffes „Umwelt“ verwendet, auch wenn letzterer immer noch eine stärkere Verbreitung erfährt. Der Begriff „Umwelt“, der offenkundig etwas meint, das uns umgibt, das um uns herum ist, ist irreführend. Darüber hinaus geht er auf eine problematische Auffassung von der Stellung der Lebewesen aus, die vom deutsch-baltischen Biologen **Jakob Johann von Uexküll** (1864 – 1944) geprägt wurde, der übrigens ein Verehrer Adolf Hitlers war. Siehe z.B. Uexküll, Umwelt und Innenwelt der Tiere, in: Klassische Texte der Wissenschaft, SpringerSpektrum 2014 (Hrsg von Florian Mildenberger und Bernd Herrmann), auch verfügbar im:
Uexküll befasst sich mit den je unterschiedlichen Lebenswelten der verschiedenen Tierarten und schreibt (S. 5):
„Das nähere Studium lehrt uns, dass jede dieser tausendfach verschiedenen Lebensformen eine ihm eigentümliche Umwelt besitzt, die sich mit dem Bauplan des Tieres wechselseitig bedingt.“
Die Umwelt eines Tieres kann nicht von außen objektiv bestimmt werden, sondern wird durch die die physiologischen Eigenschaften der Tierart definiert. Auf S. 37 bringt Uexküll als Beispiel die Art der Amöbe:
„Nur das Ektoplasma bestimmt das, was als Umwelt der Amöbe bezeichnet werden kann.“
Die Umwelt einer Amöbe wird nicht objektiv von außen bestimmt, sondern durch ihre physiologischen Eigenschaften, insbesondere das Ektoplasma. Dieses zähflüssige Medium ermöglicht der Amöbe, Reize wahrzunehmen und mit ihrer Umgebung zu interagieren. Nur das, was das Ektoplasma beeinflusst und registriert, wird Teil ihrer Umwelt. Zusammengefasst: Die Umwelt eines Lebewesens ist das, was es durch seine eigenen Sinnesorgane (hier: das Ektoplasma) wahrnehmen und verarbeiten kann. Das macht durchaus Sinn. Dieses Denkmuster lässt sich einerseits als Schritt hin zu einem pluralistischen Verständnis des Lebens interpretieren. Andererseits weisen Kritiker darauf hin, dass von Uexkülls Werk auch eine strukturelle Konservativität sowie eine identitäre Logik innewohnt. Besonders deutlich wird dies in seiner Staatsbiologie, in der er die Auffassung vertritt, jedes Lebewesen habe einen festen Platz in einer vorgegebenen natürlichen Ordnung. Uexküll konzipiert den Staat als Organismus und äußert sich skeptisch bis ablehnend gegenüber demokratischen Ideen, die er als Bedrohung für die gesellschaftliche Ordnung betrachtet. Vor diesem Hintergrund lassen sich seine Umweltlehre und seine Vorstellungen durchaus auch als potenzielle Grundlage für rassistische und identitäre Ideologien deuten. Dennoch sollte Uexküll kritisch gelesen werden.
Zu einer Auseinandersetzung mit Uexkülls „Umwelt“-Begriff empfehle ich Gottfried Schnödl und Florian Sprenger:
Beide Autoren kommen zu dem Schluss, dass eine ökologische Bewegung, die von Uexkülls Umweltlehre ausgeht, anschlussfähig an neurechtes Gedankengut und daher gefährlich ist. Es war der deutsche Philosoph Helmuth Plessner (1892 – 1985), der den erweiterten Begriff der „Mitwelt“ als einer der ersten geprägt hat. Plessner unterscheidet zwischen Außenwelt, Innenwelt und Mitwelt. Die Mitwelt ist dabei die Sphäre, in der der Mensch sich gemeinsam mit anderen Menschen, mit denen er in Beziehung tritt, erfährt. In Helmuth Plessner: Die Stufen des Organischen und der Mensch: Einleitung in die philosophische Anthropologie, Sammlung Göschen, de Gruyter, 1975, S. 302, schreibt er:
„Mitwelt ist die vom Menschen als Sphäre anderer Menschen erfasste Form der eigenen Position.“
Nach Plessner entsteht unser Selbstverständnis als Menschen immer in Bezug auf andere Menschen. Die Mitwelt ist die „soziale Sphäre“, in der wir uns selbst als Teil eines größeren Ganzen erfahren. Plessner beschränkt den „Mitwelt“-Begriff jedoch auf die Interaktion zwischen Menschen.
Eine Erweiterung auf die „nicht-menschliche“ Sphäre wird unter anderem vorgenommen bei Jonas Nesselhauf und Urte Stobbe in „Mensch & Mitwelt“, Werhahn Verlag, 2022 (verfügbar in Auszügen hier), S. 12:
„Nicht nur Freuds 'Kränkungen', sondern auch zahlreiche andere diskursive Veränderungen lassen sich als grundsätzliche Neuaushandlungen des Menschen im Verhältnis zur Welt zusammenfassen – sei es der ökologischen, gesellschaftlichen oder schließlich kulturellen 'Umwelt'. Denn so wie der geozentrische Anspruch durch die 'kopernikanische Wende' hinterfragt und schließlich ebenso aufgegeben wurde wie das Verständnis einer anthropozentrischen Beherrschung der Natur als das überlegen(st)e Wesen, so ist die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts durch das kritische Bewusstsein kulturwissenschaftlicher Forschungen geprägt: Lineare und hierarchische Ordnungen werden von einem Denken in netzwerkhaften Verflechtungen abgelöst und bisherige Vorstellungen von Homogenität durch die paradigmatische Pluralsetzung von Konzepten wie 'Kulturen', 'Identitäten' etc. ersetzt; hegemoniale Machtkonstellationen des Kolonialismus oder Eurozentrismus werden ebenso dekonstruiert wie vermeintliche Überlegenheiten aufgrund von Geschlecht oder 'Rasse', und die Binarität von 'Natur' und 'Kultur' wird zugunsten eines quasi-symmetrischen 'Parlaments der Dinge' aufgehoben. Kurz: Gewissheiten werden hinterfragt und Wissenssysteme dezentriert, Blickwinkel verschoben und Perspektiven umgekehrt – und so handelt es sich dabei vielleicht auch weniger um 'Kränkungen' als vielmehr eine 'Gesundung'. Gleichzeitig scheinen alle diese Fragen auf die Rolle und Stellung des Menschen im Verhältnis zur 'Umwelt' zu zielen – oder besser: der 'Mitwelt'. Denn mit diesem Begriff lassen sich neben der 'Gesamtheit der Mitmenschen, Zeitgenossen' oder der 'soziale[n] Umgebung des Menschen' nun auch Mensch-Natur-Verhältnisse neu denken: Ist ein Sprechen von 'der Natur' im Zeitalter des Anthropozän zunehmend schwierig, und setzt die 'Umwelt' den Menschen zu sehr in das Zentrum, so impliziert das Konzept der 'Mitwelt' ja die 'Eigenständigkeit und Eigenwertigkeit der nichtmenschlichen Natur'. Diese Vorstellung, 'dass die Hingebung nicht nur auf den Menschen, sondern auch auf die Kreatur, ja überhaupt auf alles Leben, das in der Welt ist und in den Bereich des Menschen tritt, zu gehen habe', ist keineswegs neu, doch braucht es dafür sowohl andere Theoriemodelle wie auch ein verändertes Handeln.“
Wenn ich von „Mitwelt“ spreche, beziehe ich mich im Wesentlichen auf die Perspektive, die Dr. Michael Blume auf seinem Blog „Natur des Glaubens“ anbietet.
In folgender Rede vom Februar 2023 setzt er sich im Detail mit der „Staatsbiologie“ und dem „Umwelt“-Begriff von Uexküll auseinander und schlägt den besseren Begriff der „Mitwelt“ für ökologisches Denken vor:
×Der Text von Humboldt stammt aus seinem Werk: Ideen zu einer Geographie der Pflanzen Nebst einem Naturgemälde der Tropenländer auf Beobachtungen und Messungen gegründet, welche vom 10ten Grade nördlicher bis zum 10ten Grade südlicher Breite, in den Jahren 1799, 1800, 1801, 1802 und 1803 angestellt worden sind, Tübingen bei G. Cotta, Paris bei F. Schoell, 1807, verfügbar im (S. 39):
Die Humboldt-Biografie von Andrea Wulf: Alexander von Humboldt und die Erfindung der Natur, C. Bertelsmann 2016. Dort habe ich von Seite 24 zitiert.
×Zitiert aus: Alexander von Humboldt und Aimé Bonplandt: Reise in die Aequinoctial-Gegenden des neuen Continents in den Jahren 1799, 1800, 1801, 1803 und 1804. J. G. Cotta, Stuttgart und Tübingen 1820, 3. Teil, 16. Kapitel S. 120 f. Ich möchte gerne die Passage in voller Länge wiedergeben:
„Die Veränderungen, welche die Zerstörung der Wälder, das Urbarmachen des Bodens in den Ebenen und der Anbau des Indigo seit einem halben Jahrhundert in der Masse der Zuflüsse hervorbrachten, gehen einerseits, und die Ausdünstung- des Bodens mit der Trockenheit der Atmosphäre liefern anderseits hinlängliche Gründe dar, um die fortschreitende Verminderung des Valencia- Sees zu erklären. Ich glaube keineswegs, wie ein Reisender, welcher später als ich diese Gegen den besucht hat, dass ‚für die Befriedigung des Geistes und zur Ehre der Naturlehre‘ ein unterirdischer Abfluss müsse angenommen werden. Durch Fällung der Bäume, welche die Berggipfel und Berghänge decken, bereiten die Menschen unter allen Himmelsstrichen den kommenden Geschlechtern gleichzeitig eine gedoppelte Plage, Mangel an Brennstoff und Wassermangel. Die Bäume hüllen sich, vermöge der Einrichtung ihrer Ausdünstung und dem Strahlen ihrer Blätter gegen einen wolkenlosen Himmel, in eine stets kühle und nebligte Atmosphäre; sie wirken auf den Reichthum der Quellen, nicht, wie man lange Zeit geglaubt hat, durch eine besondere Anziehungskraft auf die in der Luft enthaltenen Dünste, sondern, indem sie den Boden vor der unmittelbaren Sonnenwirkung schützen, mindern sie die Ausdünstung des Regenwassers. Die Zerstörung der Wälder, wie die europäischen Colonisten dieselbe in America allenthalben mit unvorsichtiger Eile vornehmen, hat die gänzliche Austrocknung oder wenigstens die Abnahme der Quellen zur Folge. Die Betten der Bäche, welche einen Theil des Jahrs trocken bleiben, verwandeln sich in Bergströme, so oft Gussregen aus den Höhen fällt. Und weil mit dem Gesträuche auch der Rasen und das Moos auf den Gräten der Berge verschwinden, so wird der Ablauf des Wassers durch nichts weiter aufgehalten: anstatt, mittelst eines allmähligen Durchseihens, die Gewässer der Bäche langsam fürdauernd zu unterhalten , furchen sie bey heftigen Regengüssen die Hügelabhänge aus, schwemmen das losgerissene Erdreich fort, und bilden jene plötzlichen Anschwellungen, welche das Land verheeren. Es ergiebt sich hieraus, dass die Zerstörung der Wälder, das Verschwinden fürdauernd fliessender Quellen, und das Daseyn von Bergströmen drey genau mit einander verbundene Erscheinungen sind. Landschaften, welche auf entgegengesetzten Halbkugeln liegen, die von der Alpenkette begrenzte Lombardey und das zwischen den stillen Ocean und die Anden-Cordillere zusammengedrängte untere Peru liefern auffallende Beweise von der Richtigkeit dieser Behauptung.
Bis um die Mitte des abgeflossenen Jahrhunderts stunden die Berge, welche die Thäler von Aragua einfassen, mit Waldung bedeckt. Grosse, den Familien der Mimosen, Ceibas und der Feigen zugehörige Bäume gaben den Seegestaden Schatten und Kühlung. Das damals noch wenig bewohnte flache Land war mit Sträuchern bewachsen, zwischen denen zerstreute Baumstämme und Schmarotzer-Pflanzen sich befanden, der Boden selbst war mit dichtem Rasen überzogen, welcher zum Strahlen des Wärmestoffs ungleich weniger fähig ist, als das angebaute, und eben deshalb gegen die Sonnenhitze nicht geschützte Land. Mit der Zerstörung der Bäume, und mit dem vermehrten Anbau des Zuckerrohrs, des Indigo und der Baumwolle haben sich die Quellen und alle natürlichen Zuflüsse des Valencia-Sees von Jahr zu Jahr vermindert.“
×Werner Bätzing: Orte guten Lebens Die Alpen jenseits von Übernutzung und Idyll – Einsichten und Einmischungen aus drei Jahrzehnten, herausgegeben von Evelyn Hanzig-Bätzing, Geleitwort von Reinhold Messner, Rotpunktverlag 2009.
×Siehe beispielsweise Werner Bätzing: Zwischen Wildnis und Freizeitpark – Eine Streitschrift zur Zukunft der Alpen, Rotpunktverlag, 2017.
Werner Bätzing thematisiert in seinem Buch „Zwischen Wildnis und Freizeitpark“ die Herausforderungen und Zukunftsperspektiven des Alpenraums. Er plädiert dafür, die Alpen nicht nur als touristischen Erlebnisraum, sondern als lebenswerte, multifunktionale Region zu begreifen. Im Zentrum steht die Idee der Doppelnutzung, also einer ausgewogenen Verbindung von globaler und regionaler Wirtschaft. Diese Kombination soll nicht nur wirtschaftliche Stabilität schaffen, sondern auch die kulturelle Identität der Alpenregionen erhalten.
Bätzing fordert dass die Alpen nicht länger primär als Freizeit- oder Energieraum genutzt werden, sondern als Lebensraum, der die Bedürfnisse der dort lebenden Menschen ernst nimmt. Eine stärkere Förderung regionaler Wirtschaftskreisläufe könnte dabei zur nachhaltigen Entwicklung und zur Verbesserung der Lebensqualität beitragen. Statt einseitiger Nutzungsszenarien entwirft Bätzing eine Vision, in der die Alpen als dezentraler, vielfältiger Lebens- und Wirtschaftsraum verstanden werden – im Einklang mit Mensch und Natur.
Ich möchte noch ein paar weitere Stellen aus der Streitschrift zitieren:
S. 130: Die Alpen als ein „Frühwarnsystem für Europa“:
„Die Alpen zeigen sehr anschaulich und eindeutig, dass der Mensch trotz aller modernen Naturwissenschaft und Technik die Natur auf der Erde grundsätzlich nicht im Griff hat und nie total beherrscht.“
S. 131: „Der Tourismus im Alpenraum zeigt sehr anschaulich und eindeutig, dass eine permanente Erlebnissteigerung in der Freizeit nicht wirklich möglich ist und dass dies nur in einem riesigen Erlebnis-Burn-out enden kann. Und die Erfahrungen der Alpen als Ergänzungsraum der Metropolen und als Tourismuszentrum zeigen, dass eine inszenierte Fremdbestimmung einen Lebensraum unwirtlich werden lässt und alle Lebendigkeit zerstört.“
„Diese fundamentalen Alpenerfahrungen in den Bereichen Umwelt, Wirtschaft, Gesellschaft machen deutlich, dass die Grundlagen unserer modernen Welt sehr fragil sind, und sie lassen befürchten, dass diese Welt irgendwann einmal in nicht allzu ferner Zukunft zusammenbrechen wird. Die große Gefahr besteht darin, dass bis zu diesem Zeitpunkt alle nicht nutzenmaximierten Lebens- und Wirtschaftsformen auf der Erde zerstört werden, so dass dieser Zusammenbruch zum Totalzusammenbruch wird und ein Neuanfang in neuen Formen gar nicht mehr möglich ist oder extrem schwierig wird.“
Als Alternative schlägt er die „Leitidee der ausgewogenen Doppelnutzung“ zwischen globaler Wirtschaft und Regionalwirtschaft vor.
S. 134:
„Auf diese Weise hätten wir dann zwei verschiedene Wirtschaftsformen, die nebeneinander stehen und sich wechselseitig ergänzen würden. Die Regionalwirtschaft würde dabei der extrem fragilen globalen Wirtschaft ein sehr attraktives, lebendiges und multifunktionales Umfeld stellen und sie dadurch ein Stück weit stabilisieren. Mittel- bis langfristig könnte die Regionalwirtschaft dann durch ihre umweltverträgliche Nutzung wichtige Ressourcen dauerhaft erhalten und pflegen, sodass ein plötzlicher Zusammenbruch der Weltwirtschaft nicht mehr so verheerende Konsequenzen hätte, wie wenn gar keine alternativen Nutzungsformen mehr vorhanden wären.“
Die „Leitidee der ausgewogenen Doppelnutzung“ könnte nicht nur für die Alpen, sondern für Europa eine wichtige Zukunftsperspektive darstellen.
×Werner Bätzing: Zwischen Wildnis und Freizeitpark – Eine Streitschrift zur Zukunft der Alpen, Rotpunktverlag, 2017, S. 135.
×Beispiele finden Sie in Dr. Georg Lamberty, Prof. Dr. Thomas Zumbroich, Dr. rer. nat. Falko Wagner, Melanie Kemper: Renaturierung von Fließgewässern: ein Blick in die Praxis, Abschlussbericht Im Auftrag des Umweltbundesamtes, 2020:
Auf S. 23 steht zum Thema Erholungsraum bei der Renaturierung der Ruhr:
„Dadurch entstand eine naturnahe Flusslandschaft mitten in der sauerländischen Stadt. Zunehmend prägt die renaturierte Ruhr das Stadtbild und wird von der Bevölkerung zur Erholung genutzt.“
×Thomas Fleischhacker: Wie ein Fluss die industrielle Entwicklung erlebt. Die Murg von Gernsbach bis Rastatt. In: Industrialisierung im Nordschwarzwald, Oberrheinische Studien, Band 34. Jan Thorbecke Verlag, Ostfildern 2016, S. 177–186, ISBN 978-3-7995-7835-6, S. 184-185.
×Spätestens an dieser Stelle berührt der Text den Bereich der Spiritualität. Ich selbst sehe im wissenschaftlichen Denken verortet und hege starke Skepsis gegenüber magischem Denken oder Esoterik. Wenn wir, wie hier bereits angedeutet, wissenschaftliche Themen – in diesem Fall die erdgeschichtlichen Veränderungen und die Dynamik von Fließgewässern – aus einem spirituellen Kontext heraus betrachten, begeben wir uns auf eine anspruchsvolle Gratwanderung. Es besteht die Gefahr, dass der Diskurs ins Esoterische abgleitet. Daher halte ich eine präzise Begriffsklärung für notwendig. Die wissenschaftliche Methode, insbesondere in Anlehnung an Karl R. Popper und das Prinzip der **Falsifizierbarkeit**, beschränkt sich auf das, was im Rahmen der jeweiligen Theorie überprüfbar ist. Wissenschaftliche Ansätze tragen nicht unbedingt dazu bei, die Frage nach meinem Ort in der Welt und dem Sinn meines Daseins zu beantworten. Dennoch können (und sollten) Wissenschaft und aufgeklärtes Denken mit Spiritualität koexistieren. Wenn ich beispielsweise einem Fluss das Attribut „lebendig“ zuweise – eine Betrachtungsweise, die ich im weiteren Verlauf des Textes vertiefen werde – dann würde ich dies als eine spirituelle Herangehensweise bezeichnen. Hierbei besteht m.E. aber die Gefahr, dass ich in das Reich der Märchen abgleite oder, was noch problematischer wäre, eine Mischung aus wissenschaftlichem Anspruch und Märchen präsentiere. Dies könnte leicht als „esoterisch“ wahrgenommen werden. Daher möchte ich die Begriffe Esoterik und Spiritualität klar voneinander abgrenzen:
Esoterik bezeichnet spezifische „geheime“ oder magische Praktiken, die sich mit einem inneren Verständnis des Universums befassen und oft nur einem kleinen, eingeweihten Kreis zugänglich sind. Esoterische Erklärungsmodelle, wie etwa die Homöopathie, sind so konstruiert, dass sie nicht falsifizierbar sind und somit gegenüber kritischen Fragen „immun“ bleiben. Esoterik und Pseudowissenschaft gehen daher oft Hand in Hand.
Siehe z.B. Mukerji, N., Ernst, E. Why homoeopathy is pseudoscience. Synthese 200, 394 (2022). https://doi.org/10.1007/s11229-022-03882-w.
Spiritualität hingegen ist die Suche nach einem höheren Sinn und das Erleben einer tiefen Verbundenheit mit allem, was existiert. Spiritualität ist für jeden zugänglich und erfordert keine speziellen Praktiken oder Einweihungen. Wenn ich an einem nebligen Herbstabend in den Bergen das Gedicht „Dämm‘rung senkte sich von oben“ von Johann Wolfgang von Goethe leise für mich flüstere, kann ich sowohl Freude an den geologischen Zusammenhängen empfinden als auch eine „spirituelle Stimmung“ erleben, die mich mit einem „höheren Sinn“ in Beziehung setzt, das sich der weiteren Erklärung und Beschreibung entzieht. In dieser Kategorie sehe ich auch die Bedeutung von Kunst, die über sich hinausweist und existenzielle Themen wie Tod, Vergänglichkeit und den Sinn des Lebens berührt.
In diesem Sinne werde ich es in diesem Text wagen, mich auf spirituelle Themen einzulassen, in der Hoffnung, nicht ins Esoterische abzudriften. Mit anderen Worten: Einem Fluss das Attribut „lebendig“ zuzuweisen, halte ich für eine sinnvolle spirituelle Einstellung.
Siehe z.B.: Cloud QY, Redvers N. Honoring Indigenous Sacred Places and Spirit in Environmental Health. Environ Health Insights. 2023 Feb 19;17:11786302231157507. doi: 10.1177/11786302231157507. PMID: 36825244; PMCID: https://pmc.ncbi.nlm.nih.gov/articles/PMC9941589/.
×Robert Macfarlane: Sind Flüsse Lebewesen?, Ullstein, 2025, S.
Titel der englischen Originalausgabe: Is a River Alive?, Norton and Company, 2025.
×Während einer Expedition erklärt Giuliana:
„Genau genommen fließen hier gerade drei Flüsse um uns herum … Einer direkt vor unseren Füßen, der Río Los Cedros, den wir alle sehen und hören können. Dann einer unter unseren Füßen. Das ist der Pilzfluss. Denn die Ektomykorrhizapilze – die sich im Erdboden unter uns über Tausende Kilometer erstrecken – erweitern das Einzugsgebiet eines Baumes oder einer Pflanze für Wasser, indem sie ein unterirdisches Mikroflusssystem erschaffen, das Wasser und Nährstoffe zwischen den Bäumen transportiert. Und die Mengen, die durch diese Ektonetzwerke fließen, können riesig sein, einfach weil die Myzelien so weit verzweigt sind.“
Und der dritte Fluss
„… ist der Himmelfluss über uns. Der fliegende Fluss! Damit meine ich aber nicht nur, dass die Erdatmosphäre Wasser enthält, das ist ja klar. Nein, es gibt auch besondere Flüsse und Strömungen darin, und einige davon fließen – was sonst naturgemäß kein Fluss kann – aufwärts, gegen die Schwerkraft, und bringen enorme Wassermengen vom Meer hinauf zum Berggipfel, von wo sie dann herunterfallen. Wir sitzen hier also alle zwischen und unter Flüssen: dem Himmelsfluss über uns, dem Río Los Cedros zu unseren Füßen und den Myzelströmen und dem Grundwasser unter uns – sie bewegen sich von den Luftadern des Planeten durch die Venen des Waldes bis in die Kapillaren der Erde selbst.“
(Robert Macfarlane: Sind Flüsse Lebewesen?, Ullstein, 2025. S. 124f.)
Originaltext in der Englischen Ausgabe auf S 103-104:
„'You know, there are in fact three rivers flowing here, now, around us,' says Giuliana. 'There’s the one at our feet, the Río Los Cedros, the one we can all see and hear. Then there’s the one beneath our feet. That’s a fungal river. One of the things that ectomycorrhizal fungi do – and there will be thousands of miles of them in the soil beneath us – is to extend the area of water absorption for a tree or plant, connecting and creating a micro river system of water and nutrients that flows between trees, through the earth. And the volume of flow through these ecto-networks, because of the sheer extend of the mycelia, can be huge.' 'And the third?' asls César. 'Oh, the third ist the sky-river above us. The flying river! By this don’t mean only that the atmosphere is a water-bearing medium, though of course it is, but that there are specific currents and flows within it, and so some of these flows move uphill, against gravity, transporting immense quantities of water back from sea to mountain summit, in order to fall again…'“
Giulianas Aussage, dass sich diese Pilze unterirdisch über „Tausende von Kilometern“ erstrecken, bezieht sich vermutlich nicht die Ausdehnung eines einzelnen Myzels, sondern auf die Gesamtlänge aller Pilzfäden in einem bestimmten Bodenvolumen; im englischen Originaltext oben wird diese Tatsache möglicherweise etwas präziser ausgedrückt. Aber dennoch ist die Verbindung dieser verschiedenen „Netzwerk“ sehr beeindruckend, finde ich.
×Robert Macfarlane: Sind Flüsse Lebewesen?, Ullstein, 2025, S. 100. Originaltext in der Englischen Ausgabe auf S. 82:
„It seems clear to me then, in that strange, bright water, that to say a river is alive is not an anthropomorphic claim. A river is not a human person, nor vice versa. Each withholds from the other in different ways. To call a river alive is not to personify a river, but instead further to deepen and widen a category of 'life', and in so doing – how had George Eliot put it? – 'enlarge the imagined range for self to move in'.“
Mcfarlane zitiert hier wiederrum die englische Schriftstellerin und Journalistin George Eliot (1819 - 1880) aus ihrem Werk „Felix Holt, the Radical“, in dem es um die politischen Konflikte und sozialen Veränderungen in einer kleinen englischen Stadt während der Zeit des Reformgesetzes von 1832 geht. Das Zitat von George Eliot im englischen Original:
„The mother's love is at first an absorbing delight, blunting all other sensibilities; it is an expansion of the animal existence; it enlarges the imagined range for self to move in: but in after years it can only continue to be joy on the same terms as other long-lived love—that is, by much suppression of self, and power of living in the experience of another.“
×Robert Macfarlane: Sind Flüsse Lebewesen?, Ullstein, 2025, S. 124. Originaltext in der Englischen Ausgabe auf S. 103:
„'The mining would kill this river stone-dead,' says Giuliana. 'If you take away the forest, you take away the rain and the mist – and so the river dies.'“
×Die Alpgenossenschaft rechtfertigte die Maßnahmen mit der Notwendigkeit, die durch das Hochwasser verursachten Schäden an den Weideflächen zu beseitigen. Dabei wurde argumentiert, dass die Baggerarbeiten notwendig seien, um zukünftige Überschwemmungen zu verhindern und die landwirtschaftliche Nutzung der Flächen zu sichern. Diese Sichtweise ignoriert jedoch die ökologischen Belange und die langfristigen Folgen für das Ökosystem des Wildbaches. Es kam zu einem Gerichtsverfahren, das jedoch ohne Urteil gegen Zahlung einer Geldauflage eingestellt wurde. Man muss sich das einmal vor Augen führen: Dieser Bach liegt in einem Gebiet, das folgendermaßen ausgewiesen ist: als Fauna-Flora-Habitat-Schutzgebiet (FFH), als europäisches Vogelschutzgebiet (SPA) und als Naturschutzgebiet („Allgäuer Hochalpen“). Darüber hinaus ist der Bach gemäß dem Bundesnaturschutzgesetz zu 100 Prozent als Biotop geschützt und fällt unter die Wasserrahmenrichtlinie.
Pacha Mama könnte vielleicht am besten als Mutter Natur oder Mutter Erde übersetzt werden.
×In Ecuador gehen Naturschützer noch einen Schritt weiter: Die Initiative More-Than-Human Life (MOTH) hat eine Petition beim Copyright-Büro eingereicht, um den Nebelwald beim Río Los Cedros als Miturheber des Liedes „Song of the Cedars“ anzuerkennen. Diese Initiative widmet sich „dem Schutz und der Förderung der Rechte und des Wohlergehens von Menschen, nichtmenschlichen Lebewesen und dem Netz des Lebens, das uns alle trägt“.
Der Song ist in der Zusammenarbeit von Robert Mcfarlane, Giuliana Furci, dem Liedermacher Cosmo Sheldrake und dem Juristen César Rodríguez-Garavito entstanden und enthält als wesentlichen Bestandteil Audio-Recordings, die im Nebelwald aufgenommen wurden
In der Sprache der einheimischen Māori trägt das Wort Te Awa Tupua die Bedeutung für einen Fluss als Ahne und als ein unteilbares, lebendiges Ganzes, das sowohl physische als auch spirituelle Dimensionen umfasst.
Die genannten Beispiele sind nur einige aus einer wachsenden Liste weiterer solcher Fälle. In diesem Artikel finden Sie eine Liste weiterer Fälle, in denen der Natur autonome Rechte zugesprochen wurden:
×Frank Herzer: Die Flussgeschichte der Donau, GRIN Verlag, 2010, S. 17.
×Die Aufnahme dauert mehrere Minuten und es passiert darin nicht viel, daher reicht es vermutlich, wenn Sie ein paar Sekunden hineinhören. Sie können das aber auch gerne als Einladung verstehen, die Aufnahme später in voller Länge als beruhigendes Hintergrundrauschen laufen zu lassen.
×Auf der Webseite des MARCHIVUM – Mannheims Archiv, Haus der Stadtgeschichte und Erinnerung – finden Sie Karten mit früheren Flussverläufen im Bereich des heute begradigten Flussbettes. Es lohnt sich, diese mit dem Foto zu vergleichen.