Zeitlichkeit und Lebendigkeit von Flüssen

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„The purposes of this Act are (…) to give the River the capacity of a natural person in order to protect its right to exist and flow, to maintain its vital cycles, natural biodiversity and integrity, to fulfil essential functions within its ecosystem, to be nourished by its aquifers and tributaries, to be protected from contamination and to regenerate (…)“ (Mehr erfahren)

Dieser Text aus einem Gesetzentwurf des kanadischen Unterhauses vom 5. Mai 2022 mag auf den ersten Blick ungewöhnlich erscheinen: Darin wird einem Flusssystem der Status einer juristischen Person zugesprochen. Doch diese Idee ist weniger abwegig, als sie scheint – im Gegenteil: Im folgenden Text möchte ich zeigen, warum es durchaus plausibel ist, Flüsse als lebendige Akteure zu begreifen.

Das Schwarzwaldflüsschen Wutach, das später noch eine Rolle spielen wird, begleitet diesen Text visuell. Weitere Fotos von lebendigen Flüssen finden Sie in meiner Galerie streaming waters.

Ich bedanke mich bei dem Flussmorphologen Thomas Fleischhacker für wertvolle Rückmeldungen und dafür, dass er jederzeit bereit war, seine Expertise zu teilen.

Zur Einstimmung lade ich Sie zunächst zu einem kurzen Ausflug in die Erdgeschichte ein. Wir beginnen auf langen (geologischen) Zeitskalen von Zehntausenden bis wenigen Millionen Jahren – und nähern uns dann Zeiträumen, die in unsere historische Wahrnehmung fallen: Jahrhunderte, Jahrzehnte. Dabei geht es immer auch um das Verhältnis von Mensch und Fluss – und darum, wie tiefgreifend Flüsse sich wandeln können. Wir werden sehen: Ihre Dynamik ist beeindruckend – und sie zu unterdrücken, etwa durch technische Eingriffe wie Flussausbauten, ist nicht immer eine gute Idee. Gerade im Angesicht der Klimakrise mit zunehmenden Extremwetterereignissen und Dürren wird deutlich, wie wichtig ein neues Verständnis von Flüssen ist.

Ich beginne unsere Reise mit einem Blick auf den Oberlauf der Donau – und in seine erdgeschichtliche Vergangenheit.

Entwicklung der oberen Donau im Lauf der Erdgeschichte

Die Geschichte der Donau lässt sich zurück verfolgen bis ins obere Miozän vor etwa 5–10 Millionen Jahren.

Das Quellgebiet der Urdonau lag zunächst im Aarmassiv, einem Gebirgsmassiv, das heute in den Schweizer Zentralalpen lokalisiert ist. Im Pliozän (vor 5,3 bis 2,6 Millionen Jahren) verlor die Donau durch tektonische Hebungen weite Teile ihres Einzugsgebietes und ihr Quellgebiet verlagerte sich in den Schwarzwald. Der am Feldberg entspringende Quellfluss trägt den Namen "Feldberg-Donau".

Ein besonders prägendes Ereignis war der sogenannte Wutachdurchbruch vor etwa 18.000 Jahren: Durch rückschreitende Erosion und aufgestautes Schmelzwasser wurde die Feldberg-Donau innerhalb von sehr kurzer Zeit in das Wutachtal zum Hochrhein umgeleitet. Dabei entstanden die Wutachschlucht und das markante Wutachknie.

Dieses Ereignis dauerte möglicherweise nur Wochen oder Monate und könnte sich bereits in Anwesenheit früher Menschen abgespielt haben (Mehr erfahren).

Heute entspringt die Donau in der Nähe von Furtwangen auf rund 1100 Metern Höhe auf einer Hochfläche des mittleren Schwarzwaldes.

Das war die Kurzfassung; wer es genauer wissen möchte, siehe: Eine kurze Geschichte der Donau

Auch im Holozän schnitt sich die Wutach – einer der wenigen noch verbliebenen Wildflüsse Deutschlands – weiter in das Gestein ein – ein Prozess, der bis heute anhält. In ihrem oberen Verlauf hat sich dieser Fluss in eine Folge unterschiedlich alter Gesteinsschichten eingegraben. Das Foto zeigt die Wutach in einem Bereich, in dem sie durch die Schichten des Muschelkalk fließt (Mehr erfahren).

Panoramaaufnahme eines Flusses in herbstlicher Waldlandschaft. Im linken Vordergrund tritt Wasser aus Spalten im Kalkgestein aus und mündet in den Flusslauf. Die lange Belichtungszeit lässt die Wasseroberfläche weich und teils verschwommen erscheinen, was den Eindruck von Bewegung und Strömung verstärkt.
Die Wutach an einer Stelle, an der Wasser, das einige Hundert Meter flussaufwärts versickert ist, aus dem Kalkstein wieder austritt.

Wer durch die Wutachschlucht wandert, bekommt einen Eindruck davon, wie lebendig und veränderlich sich diese Landschaft noch heute zeigt (Mehr erfahren).

Im Frühjahr, wenn die Wutach viel Wasser führt, ist ihre Dynamik besonders stark ausgeprägt.

Der Fluss wurde aus niedriger Perspektive knapp oberhalb der Wasseroberfläche aufgenommen, und der der Blick führt flussaufwärts in die entgegengesetzte Strömungsrichtung. Durch die leicht verlängerte Belichtungszeit wirken die Wellen weichgezeichnet, das Wasser erscheint in strähnigen Strukturen, die die Dynamik der Strömung betonen.
Die Wutach: Ein kraftvoller Fluss, der sich unermüdlich seinen Weg bahnt.

Entwicklung von Flüssen auf kürzeren Zeitskalen und der Einfluss des Menschen

Wir haben uns angeschaut, wie Flüsse sich auf Zeitskalen von Millionen bis zu wenigen Tausend Jahren verändern. Sie wechseln ihren Lauf aber auch, wenn man sie lässt, auf sehr viel kürzeren, uns Menschen besser zugänglichen, Zeitskalen von Jahrhunderten oder Jahrzehnten. Sie befinden sich hierbei meist in einem Wechselspiel mit menschlichem Handeln: Schon seit langer Zeit greifen Menschen in den natürlichen Verlauf von Flüssen ein – sie begradigen sie oder bauen sie aus, um den Handel zu erleichtern oder andere Wirtschaftszweige zu unterstützen, etwa die historische Flößerei im Schwarzwald. Hier wurden die Zuflüsse zum Rhein benutzt, um riesige Mengen an Holz abzutransportieren. Selbst an Bächen auf den entlegensten Höhen des Schwarzwaldes wurden sogenannte „Schwallungen“ errichtet, um mit der Kraft des kurzzeitig aufgestauten Wassers die mächtigen Stämme talabwärts transportieren zu können (Mehr erfahren).

Das heißt, der Mensch hat immer wieder Einfluss genommen auf den natürlichen (will sagen: ungestörten) Verlauf der Gewässer.

Dabei kann sich teilweise eine erstaunliche Wechselwirkung zwischen (punktuellen) menschlichen Eingriffen und der Eigendynamik des Flusses entwickeln – sofern letztere größtenteils nicht unterbunden wird. Der Flussmorphologe Thomas Fleischhacker hat die Veränderungen des Flussbettes der Mulde, eines Nebenflusses der Elbe, nördlich von Eilenburg (Sachsen) für den Zeitraum von 1905 bis 2018 analysiert (Mehr erfahren). In diesem Abschnitt entwickelt sich der Fluss weitgehend natürlich, mit nur wenigen Ufersicherungen. Die Studie nutzt historische Karten und Luftbilder, um zu zeigen, wie die Mulde durch natürliche Prozesse und menschliche Eingriffe ihren Lauf mehrfach verändert hat. Besonders untersucht werden zwei menschlich verursachte Durchstiche: 1902 zur Abkürzung eines Mäanders bei Oberförsterwerder und 1915 zur Flächengewinnung für die Deutsche Celluloid Fabrik. Beide Eingriffe hatten langfristige Auswirkungen auf die Flussmorphologie und führten zu neuen Strömungsverläufen, verstärkter Erosion und Laufverlagerungen – sozusagen als „Gegenreaktion“ des Flusses.

Sehr schön in dieser Arbeit sind auch die Karten, auf denen die Flussverläufe der Mulde aus verschiedenen Jahren (mit unterschiedlichen Farben codiert) übereinandergelegt sind (Mehr erfahren).

Am Beispiel der Schwarzwaldflusses Kinzig (Schwarzwald) zeigt Thomas Fleischhacker eindrucksvoll (durch den Vergleich historischer Karten mit dem heutigen Zustand), wie eine einstmals lebendige Flusslandschaft ihre natürliche Wandelbarkeit verliert, wenn durch Ausbaumaßnahmen der freie Lauf des Gewässers weitgehend eingeschränkt wird. So beobachtet er:

„Betrachtet man heutzutage die Kinzig zwischen Kehl und Hausach, dann sieht man fast durchweg einen begradigten und einheitlich ausgebauten Flusslauf, der von Deichen und grasbewachsenen Vorländern begleitet wird. Mit diesem Bild vor Augen kann man sich kaum vorstellen, dass die Kinzig vor ihrem Ausbau ein sehr dynamischer Wildfluss war, dessen Gewässerbett von Sand- und Kiesbänken und erheblichen Breitenunterschieden geprägt war. Durch den Ausbau der Kinzig ging die Vielgestaltigkeit des Gewässerbettes verloren und damit auch viele unterschiedliche Lebensräume für Fische, Kleinlebewesen und Wasserpflanzen.“ (Mehr erfahren)

Das folgende Foto zeigt einen anderen, stark ausgebauten Fluss, den Neckar bei Mannheim (Mehr erfahren):

Ein in monochrom Blau gehaltenes Foto des Neckars in Mannheim abends in der blauen Stunde. Man blickt von einer Brücke auf den Fluss, der sich perspektivisch zur Bildmitte hin verjüngt. Dort ist dann auch rechts am Flussufer der Fernsehturm Mannheims zu sehen. Über dem Fluss in der Ferne der durch Bewegungsunschärfe verschwommene Schwarm von Vögeln.
Der Neckar ist im Mannheimer Stadtgebiet begradigt und hat dort mehr den Charakter eines künstlich angelegten Kanals.

Es zeigt sich, dass der technische Ausbau von Flüssen – etwa durch Begradigungen – langfristig nicht immer nachhaltig ist. Solche Maßnahmen verringern die Resilienz gegenüber Hochwasser, da wichtige Überschwemmungsflächen verloren gehen. Diese natürlichen Rückzugsräume sind jedoch entscheidend, um bei Hochwasser überschüssiges Wasser aufzunehmen (siehe auch diesen Artikel vom WWF).

Dadurch haben viele Flüsse ihre natürliche Dynamik – oder anders gesagt: ihre Lebendigkeit – eingebüßt.

Mit der fortschreitenden globalen Erwärmung, verursacht durch menschliche Treibhausgasemissionen, steigt zudem die Häufigkeit von Extremwetter. Infolgedessen hat sich auch das Hochwasserrisiko in Deutschland deutlich erhöht (Mehr erfahren). Der Verlust an Resilienz durch Flussbegradigungen wirkt heute umso schwerer.

Doch es gibt Gegenmaßnahmen wie z.B. Flussrenaturierungen. Darunter versteht man Maßnahmen zur Rückführung eines vom Menschen veränderten Flusses oder Baches in einen möglichst naturnahen Zustand. Diese können dazu beitragen, Flüssen – zumindest in Teilen – ihre natürliche Dynamik zurückzugeben und Rückhalteflächen zu schaffen, die Hochwasser abmildern. Durch die Wiederherstellung naturnaher Ufer und Auen verbessern sich die Speicher- und Rückhaltekapazitäten eines Flusses, wodurch sich die Folgen extremer Wetterlagen deutlich verringern lassen. Solche Retentionsräume wirken wie natürliche Schwämme: Sie nehmen überschüssiges Wasser bei Starkregen oder Überflutungen auf und verlangsamen den Abfluss. So wird verhindert, dass große Wassermengen unkontrolliert in Städte oder andere bebaute Gebiete strömen und dort Überschwemmungen verursachen (siehe hierzu z.B. folgenden Artikel der BBC).

Betrachten wir Renaturierung von Flüssen aber nicht nur als Maßnahme, mit der – Stichwort: Hochwasserschutz – vorausschauend „Schadensbegrenzung“ betrieben werden kann. Nein, Flussrenaturierung ist Teil einer positiven, zukunftsgerichteten Erzählung, wenn man sie als ganzheitliches, integratives Projekt versteht. Denn wenn man einem Fluss – selbstverständlich unter Berücksichtigung der aktuellen Bebauung und anderer Randbedingungen und unter Einbeziehung der lokalen Bevölkerung – einen Teil seines ursprünglichen „Raumes“, ja, seine „Lebendigkeit“ zurückgibt, geschieht noch viel mehr: Es können sich wieder Arten ansiedeln, die verschwunden waren; die Biodiversität wird zum Guten beeinflusst. Und darüber hinaus können für die Menschen in den Anrainergebieten und für Besucherinnen und Besucher ganz neue Erholungsräume und -möglichkeiten geschaffen werden.

Das folgende Foto veranschaulicht noch einmal die lebendige Dynamik der Wutach.

Ein strömender Fluss in Flussrichtung aufgenommen. Im Vordergrund taucht ein Fels teils aus der Strömung heraus und es ragt ein Baumstamm von hinten ins Bild. Durch die lange Belichtungszeit ist das Wasser verschwommen und wirkt fließend.
Die wilde Wutach, aufgenommen im Frühjahr 2019.

Wenn Sie sich in die Klänge des Flusses hineinhören möchten, öffnen Sie diese Audioaufnahme, die ich zur selben Zeit aufgenommen habe (Mehr erfahren):

Die Mitwelt und das Netz des Lebens

Mit dem Konzept der Renaturierung haben wir bereits einen Bogen zur Ökologie gespannt. Diese wird definiert als die Wissenschaft von den Wechselbeziehungen zwischen Organismen und ihrer Umwelt. Statt des Begriffes „Umwelt“ möchte ich aber lieber von der „Mitwelt“ sprechen. Während der Begriff „Umwelt“ suggeriert, der Mensch trete in Beziehung zu etwas, das ihn umgibt und das außerhalb von ihm steht „Mitwelt“ für:

die Gesamtheit aller Lebewesen, mit denen wir in wechselseitiger Beziehung und Verantwortung stehen als Teil eines gemeinsamen Netzwerkes des Lebens (Mehr erfahren).

Aus dieser Perspektive heraus gedacht, sind Menschen, Tiere und Pflanzen miteinander verbunden und bilden ein dynamisches Ökosystem. Diese Sichtweise impliziert eine respektvollere und nachhaltigere Haltung gegenüber der Natur, da die gegenseitige Abhängigkeit aller Lebewesen betont wird.

Nach meinem Verständnis kommt dieser Mitwelt-Begriff dem Verständnis von „Natur“ besonders nahe, das bereits im 18. Jahrhundert von dem großen Naturforscher Alexander von Humboldt (1769 – 1859) geprägt wurde. In einer Schrift von ihm aus dem Jahre 1807 finden wir folgende Aussage:

„In der großen Verkettung der Ursachen und Wirkungen darf kein Stoff, keine Thätigkeit isoliert betrachtet werden. Das Gleichgewicht, welches mitten unter den Perturbationen scheinbar streitender Elemente herrscht, dies Gleichgewicht geht aus dem freyen Spiel dynamischer Kräfte hervor; und ein vollständiger Überblick der Natur, der letzte Zweck alles physikalischen Studiums, kann nur dadurch erreicht werden, dass keine Kraft, keine Formbildung vernachlässigt, und dadurch der Philosophie der Natur ein weites, fruchtversprechendes Feld vorbereitet wird.“

Die Kulturhistorikerin Andrea Wulf geht in ihrer Humboldt-Biografie so weit zu sagen, dass Humboldt die Natur als das „Netz des Lebens“ erfand (Mehr erfahren).

Das heißt, das Verständnis von „Mitwelt“ wie ich es hier skizziert habe, lässt sich nahtlos mit Alexander von Humboldts „Netz des Lebens“ in Verbindung bringen. Dass dieses Denken auch und gerade eine Verantwortung für zukünftige Generationen einschließt, ist naheliegend, und es erschließt sich uns, wenn wir uns Aussagen wie die folgende von Alexander von Humboldt vor Augen führen. Hier spricht er von den negativen Auswirkungen von Abholzungen, die er auf seiner Reise durch Südamerika im Jahre 1800 am Valenciasee in Venezuela beobachtet hat.

„Durch Fällung der Bäume, welche die Berggipfel und Berghänge decken, bereiten die Menschen unter allen Himmelsstrichen den kommenden Geschlechtern gleichzeitig eine gedoppelte Plage, Mangel an Brennstoff und Wassermangel. (...) Die Zerstörung der Wälder, wie die europäischen Colonisten dieselbe in America allenthalben mit unvorsichtiger Eile vornehmen, hat die gänzliche Austrocknung oder wenigstens die Abnahme der Quellen zur Folge. Die Betten der Bäche, welche einen Theil des Jahrs trocken bleiben, verwandeln sich in Bergströme, so oft Gussregen aus den Höhen fällt. Und weil mit dem Gesträuche auch der Rasen und das Moos auf den Gräten der Berge verschwinden, so wird der Ablauf des Wassers durch nichts weiter aufgehalten: anstatt, mittelst eines allmähligen Durchseihens, die Gewässer der Bäche langsam fürdauernd zu unterhalten , furchen sie bey heftigen Regengüssen die Hügelabhänge aus, schwemmen das losgerissene Erdreich fort, und bilden jene plötzlichen Anschwellungen, welche das Land verheeren.“ (Mehr erfahren)

„Orte guten Lebens“ etablieren

Ich möchte noch einen Schritt weitergehen und plausibel machen, dass ein aus dem Verständnis einer „Mitwelt“ heraus gelebter, nachhaltiger und demütiger Umgang mit der Natur – insbesondere mit Flüssen – eine Lebensweise fördern kann, die für uns Menschen und auch den nachfolgenden Generationen ein „gutes Leben“ ermöglicht.

Zur Verdeutlichung dieses Gedankens greife ich auf den Alpenforscher Werner Bätzing zurück, der den Begriff „Orte guten Lebens“ in seinen Arbeiten geprägt hat – mit besonderem Fokus auf den Alpenraum (Mehr erfahren). Bätzing plädiert dafür, in dieser besonders durch die Klimakrise gefährdeten Region neue Formen der Bewirtschaftung und des Tourismus zu etablieren, die einen verantwortungsvollen Umgang mit Ressourcen sowie einen respektvollen Umgang mit Landschaft und einheimischer Bevölkerung fördern.

„Orte guten Lebens“ entstehen dort, wo Menschen, Natur und Kultur in einem ausgewogenen Miteinander stehen. Sie sind geprägt von einer nachhaltigen Wirtschaft und einem sanften Tourismus, die sowohl der lokalen Bevölkerung zugutekommen als auch die natürlichen Grundlagen berücksichtigen (Mehr erfahren). Hier werden Landschaften, Pflanzen, Tiere und Mitmenschen nicht als bloße Objekte betrachtet, sondern als integrale Bestandteile eines gemeinsamen Lebensraums.

„Orte guten Lebens“ sind nach meinem Verständnis daher Ausdruck einer gelebten „Mitwelt“.

An diesen Orten ist das Wohlergehen aller untrennbar mit dem der Natur verbunden. Bätzing betont die besondere Rolle des Alpenraums als sensibles Ökosystem – gewissermaßen als „Frühwarnsystem für Europa“. Gleichzeitig sieht er darin ein mögliches Vorbild: eine Modellregion, in der neue Formen des Wirtschaftens und Zusammenlebens entstehen können. Seine Vision ist die Entwicklung eines neuen Wirtschafts- und Lebensmodells:

„bei dem anstelle der Dominanz der Wirtschaft ein lebendiges und lebenswertes Leben in Verantwortung für sich selbst. Für die Mitmenschen und für den eigenen Lebensraum im Zentrum steht und das sich dann in zahllosen 'Orten guten Lebens' in den Alpen und in ganz Europa niederschlägt.“ (Mehr erfahren)

Wenn wir nun den Blick auf das Thema Flüsse richten, wird deutlich, dass auch hier Potenzial für solche „Orte guten Lebens“ liegt.

Maßnahmen zur Wiederherstellung naturnaher Flusssysteme erhöhen nicht nur die Resilienz gegenüber Extremwetter. Sie fördern auch die Artenvielfalt und sie schaffen darüber hinaus neue, naturnahe Erholungsräume. Ein Leben mit dem Fluss wird wieder möglich. An der Ruhr etwa haben Renaturierungsprojekte neue Erholungslandschaften entstehen lassen (Mehr erfahren).

Auch an der Murg im Nordschwarzwald zeigen sich vielfältige positive Auswirkungen. Thomas Fleischhacker beschreibt dies so:

„Aber nicht nur Ökologie und Hochwasserschutz haben sich verbessert. Erstmals sieht man zahlreiche Menschen, besonders an heißen Sommertagen spielen Kinder am und im Fluss und können ihn über die flachen Ufer auch leicht erreichen. Zu Zeiten des ausgebauten Flusses ließen die steilen gepflasterten Uferböschungen niemand so leicht ans Wasser, und die Wiesenvorländer sahen allenfalls Hundebesitzer beim Spaziergang. Auch die Menschen selbst haben also von der Umgestaltung profitiert und nehmen das Flussbett in Besitz. Die Umgestaltung kann sowohl dem Hochwasserschutz wie der Ökologie und dem Menschen dienen und dem Fluss ein bisschen vom Antlitz vergangener Tage zurückbringen.“ (Mehr erfahren)

Diese Beschreibung könnte genau Teil jener positiven, zukunftsgerichteten Erzählung sein, die ich weiter oben angesprochen habe – einer Erzählung, die zeigt, dass nachhaltiger Umgang mit natürlichen Ressourcen nicht Verzicht bedeuten muss, sondern Lebensqualität schaffen kann. In diesem Sinne kann der Fluss – verstanden als Teil eines lebendigen Netzwerks – zu einem zentralen Element für das „gute Leben“ werden.

Indigene Perspektiven – auf dem Weg zu einem neuen Rechtsverständnis

Wir haben gesehen, dass Flüsse eine hohe Dynamik auf unterschiedlichen Zeitskalen aufweisen. Sie verändern sich im Verlauf von Jahrmillionen und Jahrtausenden bis hin zu Zeitskalen, die für uns Menschen wahrnehmbar sind.

Das Verb im Titel des zuletzt zitierten Artikels – „Wie ein Fluss die industrielle Entwicklung erlebt“ – bildet einen gelungenen Einstieg in die folgenden Überlegungen. Wenn wir unsere Beziehung zur Natur als „netzwerkartig“ verstehen, ist es ein naheliegender Schritt, Flüsse als Lebewesen zu betrachten (Mehr erfahren).

Ausgehend vom Netzwerkgedanken können wir nun eine Perspektive einnehmen, wie sie in vielen indigenen Kulturen selbstverständlich ist. Eine hervorragende Einführung dazu bietet Robert Macfarlanes Buch Sind Flüsse Lebewesen? (Mehr erfahren). Es handelt von Flüssen und den Menschen, die sich für ihren Schutz einsetzen.

Ein Fluss, der in dem Buch thematisiert wird, ist der Río Los Cedros, der einen tropischen Nebelwald in den ecuadorianischen Anden durchfließt. Tropische Nebelwälder entstehen meist in Höhenlagen von 1000 bis 3000 Metern wegen der hohen Luftfeuchtigkeit durch starke Nebelbildung. Die Biologin Giuliana Furci, spezialisiert auf Mykologie, betont die enge Verbindung zwischen Fluss, Wald und den unterirdischen Pilznetzwerken (Mehr erfahren).

Robert Macfarlane verdeutlicht durch diese Beschreibungen ein erweitertes Verständnis von Naturzusammenhängen – als „Netzwerk des Lebendigen“.

Ein von unten schräg nach oben aufgenommenes Bild eines Waldes im Frühjahr. Das Blätterdach leuchtet hellgrün. Es handelt sich um einen Bannwald, und zwischen den nach oben sich verjüngenden Baumstämmen ragen einzelne Äste, die aus dieser Perspektive wie ein Netz aussehen, das senkrecht zu der Richtung, in der die Baumstämme nach oben wachsen, gespannt zu sein scheint.
Der Wald in der Wutachschlucht als Teil eines größeren „Netzwerk des Lebendigen“.

Der Autor und die in seinem Roman vorkommenden Menschen begegnen Flüssen durchweg so als handele es sich bei ihnen um lebendige Wesen. Diese Einstellung wird an vielen Stellen prägnant formuliert, wie hier:

„Da, in diesem seltsamen, strahlenden Wasser, geht mir plötzlich auf, dass es keine anthropomorphisierende Behauptung ist, wenn ich sage, dass ein Fluss ein Lebewesen ist. Ein Fluss ist kein Mensch, und umgekehrt. Jeder der beiden entzieht sich dem anderen auf andere Weise. Wenn ich sage, Flüsse sind Lebewesen, personifiziere ich nicht, sondern erweitere und vertiefe die Kategorie 'Leben', womit ich wiederum – wie George Eliot so treffend meinte – 'das innere Reich, in dem wir uns bewegen, vergrößere'.“ (Mehr erfahren)

Doch sein Buch zeigt auch die Gefahren für diese Systeme. Er berichtet, wie Flüsse sterben können – etwa durch Bergbau. So zitiert er Giuliana Furci:

„'Der Bergbau würde den Fluss umbringen, der wäre mausetot', sagt Guiliana. 'Wenn du ihm den Wald wegnimmst, nimmst du ihm auch den Regen und den Nebel. Und dann stirbt der Fluss.'“ (Mehr erfahren)

Ein Beispiel aus Deutschland zeigt, dass solche Gefahren auch hier Realität sind: 2022 wurde ein streng geschützter Wildbach im Rappenalptal im Naturschutzgebiet „Allgäuer Hochalpen“ auf 1,5 Kilometern Länge ausgebaggert. Die Maßnahme – laut Betreibern eine Reaktion auf Hochwasser – zerstörte das Biotop irreversibel. Dahinter steckt ein technokratisches Hochwasserschutzdenken: Das Wasser soll möglichst schnell abfließen. Die negativen Folgen dieser kurzfristigen Lösung treffen aber andere – zum Beispiel Gebiete flussabwärts oder zukünftige Generationen. Das eigentliche Problem wird so nicht gelöst. Man nennt so etwas auch Externalisierung. Doch nachhaltiger Schutz bedeutet gerade, Flüssen Raum zu geben (Mehr erfahren).

Robert Macfarlane begleitet Menschen, die sich für „ihren“ Fluss einsetzen – sei es als ökologisches System oder als lebendigen Organismus, wie viele indigene Kulturen es sehen. In mehreren Ländern wurde der Natur, und insbesondere auch Flüssen, bereits ein juristischer Personenstatus mit eigenen Rechten zuerkannt – ein wichtiger Meilenstein. Denn wenn dieser Gedanke in der Verfassung verankert ist, wird die Zerstörung der Natur oder eines Flusses zu einer Rechtsverletzung mit entsprechenden Konsequenzen. Mittlerweile sind die Rechte der Natur in der Verfassung Ecuadors (Mehr erfahren) verankert.

In Artikel 71 heißt es dort:

„Nature, or Pacha Mama, where life is reproduced and occurs, has the right to integral respect for its existence and for the maintenance and regeneration of its life cycles, structure, functions and evolutionary processes.“

In Artikel 74 heißt es:

„Persons, communities, peoples, and nations shall have the right to benefit from the environment and the natural wealth enabling them to enjoy the good way of living.“ (Mehr erfahren)

In Kanada erhielt der Fluss Mutehekau Shipu (Magpie River) in Kanada verfassungsmäßige Rechte, ebenso der Whanganui River in Neuseeland. Dort wurde 2017 das Te-Awa-Tupua-Gesetz verabschiedet. Es besagt (Mehr erfahren):

„Te Awa Tupua is an indivisible and living whole from the mountains to the sea, incorporating the Whanganui River and all of its physical and metaphysical elements.“ (Kapitel 12)

„Te Awa Tupua is a legal person and has all the rights, powers, duties, and liabilities of a legal person.“ (Kapitel 14)

Wenn der Natur oder gar Flüssen im Rahmen der deutschen Verfassung der Status einer juristischen Person mit eigenen Rechten verliehen würde, könnten Eingriffe wie die Zerstörung im Rappenalptal als direkte Verletzung der Rechte des Flusses gewertet und entsprechend geahndet werden. Ein solcher Rechtsstatus würde es dem Fluss ermöglichen – vertreten durch bevollmächtigte Personen – vor Gericht zu klagen und umfassenden Schutz vor menschlichen Eingriffen einzufordern.

Diese Entwicklungen zeigen: Es ist durchaus sinnvoll, Flüsse als lebendige Einheiten im Netzwerk des Lebens zu verstehen. Indigene Perspektiven tragen entscheidend dazu bei. Sie beruhen auf einem tiefen Erfahrungswissen – denn viele Gemeinschaften leben seit Generationen in enger Beziehung zu ihrem Fluss. Wird er zerstört, verlieren sie nicht ihre Lebensgrundlagen und ihre spirituelle Verbindungen.

Diese Sichtweise kann ökologische Debatten bereichern. Die weltweit zunehmende rechtliche Anerkennung der Natur als Rechtssubjekt könnte ein bedeutender Hebel für künftige Umweltverfahren werden.

Deshalb meine Anregung: Lassen wir indigene Perspektiven stärker in unsere Gespräche über die Zukunft unserer Mitwelt einfließen – und lernen wir von ihnen, wo es möglich und sinnvoll ist.

Ein Fluss fließt hinter einem Busch und zwei kleinen Bäumen dahin. Die Aufnahme wurde im Frühsommer gemacht, und die Blätter leuchten hellgrün. Im Vordergrund führen die Blätter niedrig wachsender Gewächse auf dem Boden ins Bild hinein – wie ein grüner Teppich.
Fluss und Wald in der Wutachschlucht.

Und die Donau?

Wir haben diese Flussreise mit einem Ausflug in die erdgeschichtliche Vergangenheit der Donau begonnen. Dabei haben wir gesehen, dass das Einzugsgebiet dieses Flusssystems im Laufe der Zeit immer kleiner geworden ist. Diese Entwicklung scheint nicht abgeschlossen und auch in Zukunft weiter voranzuschreiten (Mehr erfahren).

Eines der Phänomene, das diese Entwicklung sichtbar werden lässt, ist die Donauversickerung bei Immendingen. Das dort der Donau verlustig gehende Wasser fließt unterirdisch durch Karstgestein zum Aachtopf, wo es als Quelle wieder an die Oberfläche tritt. Von dort fließt es als Radolfzeller Ach zum Bodensee. Das Phänomen verdeutlicht, wie der Rhein der Donau durch sein tiefer gelegenes Einzugsgebiet zunehmend Wasser abzieht – ein Prozess fortschreitender Flussanzapfung.

Außerdem kann man davon ausgehen, dass sich ein derzeit zur Wutach entwässernder Bach bei Blumberg – das Schleifenbächle – durch rückschreitende Erosion allmählich (durch das Aitrach-Tal) einen Weg in Richtung Nordosten zum Donautal graben wird, so dass die Donau in ferner Zukunft wahrscheinlich bei Geisingen zum Rhein hin abgelenkt werden wird. Spätestens dann müsste für die Stadt Donaueschingen ein neuer Name gefunden werden.

Aber dies alles dürfte sich weit jenseits dessen abspielen, was wir Menschen zeitlich überblicken und kontrollieren können.